TRETTMANN - TRETTMANN

Es gibt Momente, in denen sich alle Energie und Aufmerksamkeit der Welt an einem Ort zu konzentrieren scheint. In denen die Luft zum Schneiden ist und die sonst so erbarmungslos rasende Zeit für einen klitzekleinen ewigen Augenblick ruht. In denen alles schwebt und leise schwelt, bis eine winzige Bewegung, vielleicht ein Beat, vielleicht ein Wort, den Ort zum Explodieren bringt und plötzlich alles klar ist. In einem dieser Momente steht Trettmann auf der Bühne des Splash! Festivals, alleine, um ihn herum nur die Industrieruinen und tausende Menschen, gemeinsam getaucht in Schwarz-Weiß. Er hebt die Stimme, das Autotune springt an, die Menschen singen die Geschichte seines Lebens. Weil sie spüren, dass es auch ihre sein könnte, obwohl wirklich nichts und niemand so ist wie der Mensch da oben hinter der schwarzen Sonnenbrille. “Nach allem, was ich weiß, es war so...”

An dieser Stelle setzt “Trettmann” ein. In vielerlei Hinsicht ist es ein typisches zweites Album geworden: Die Vorzeichen haben sich geändert, aber der Modus ist derselbe geblieben. Wieder hat sich Trettmann mit seinem Produzententeam KitschKrieg im Studio in Berlin-Kreuzberg verschanzt, um Leben in Lieder zu verwandeln. Wieder war der Anspruch maximaler Minimalismus. Jedes Wort malt ein Bild, jeder Beat ballert, reduziert auf die Essenz: Bass und Drums und Liebe. Ein Team, elf Songs, ein Film.

Wer Tretti – und die Dynamik, die er mit seiner Crew unterhält – verstehen will, muss eigentlich nur das Intro hören. Auch wenn es genau das nicht werden sollte, wie er bei einem Mittagsspliff lachend ausplaudert, gleicht es einer Grundsatzerklärung. Es kommt eben so aus ihm heraus zur Zeit, klarer und überzeugter als je zuvor. “45 und ich trende.” Und vor allem: “Immer weiter, seh kein Ende.” Die klare Kapiteleinteilung, die von außen in seine Biografie ihn gedrückt wird – Dancehall, Durststrecke, “DIY”, Don-Status – hat Trettmann selbst nie so gesehen. Er hat einfach immer nur sein Ding gemacht, damals™️ wie heute. Das selbst auferlegte Gebot der Verschnaufpause nach “DIY” beispielsweise brachen Trettmann und KitschKrieg innerhalb von zwei Monaten. Es klingt wie ein Klischee, aber es ist so: Die Musik hat ihn stets mehr interessiert als alles andere; jeder Karriereschritt war für ihn nur eine logische Folge dieser Leidenschaft. Nachts um drei vor einem Boxenturm. Mit einem Spliff im Studio. Oben auf der Bühne, egal ob vor 30 oder 30.000 Menschen. Das ist Trettmanns Welt. Er hat nie etwas anderes gewollt, nie etwas anderes verfolgt. “Was mich zu Tretti macht?” fragt er rhetorisch auf “Trettmann”. Antwort: “Ich tu das, was mich happy macht.” Mehr als ein zweites Album ist “Trettmann” daher auch ein Manifest für einen Lebensentwurf abseits von Engstirnigkeit und den Erwartungen anderer. Wo ein Herz, da auch ein Weg.

Trettmann (der im vergangenen Jahr Vater geworden ist und seiner Tochter auch den letzten Song des Albums gewidmet hat) hat seine musikalische Frühsozialisation in einer Zeit vor dem weltweiten Siegeszug der HipHop-Kultur erfahren. “Black Music” bedeutete für ihn vor allem Soul, R&B und Boogie. Er ist aufgewachsen mit Aretha und Anita, mit Marvin und Mary. Das prägt ihn bis heute. Anders als bei den allermeisten anderen im Deutschrap-Kosmos hat es etwas seltsam Selbstverständliches, wenn Tretti von einer gemeinsamen Nacht singt oder dem wehmütigen Gedanken daran, wie daraus ein gemeinsames Leben hätte werden können. Die natürliche Härte seiner Sprache schmilzt in den Räumen eines KitschKrieg-Riddims, Worte und Melodien werden eins. Das beste Beispiel für diese wahrhaft rare Gabe ist “Wenn du mich brauchst”, eine Kollabo mit der Wiener Rapperin/Sängerin KeKe. “Trettmann” ist Soulmusik unter den Vorzeichen von Trap und Streaming: echt und elegant, eigen und eingängig zugleich.

Mit Alli Neumann ist noch eine der interessantesten neuen Sängerinnen aus dem deutschsprachigen Raum auf dem Album zu hören, auf der Hedonismushymne “Zeit steht”. Die natürliche Leichtigkeit ihrer Stimme strahlt in perfektem Kontrast zu Trettmann leiser Melancholie, in der immer auch der Konflikt zwischen Erwachsensein und Eskapismus mit zu schwingen scheint, zwischen dem Wunsch anzukommen und der Angst vor dem Stehenblieben. Überraschend ist diese Kombination nur auf den ersten Blick, ebenso wie die La-La-Ästhetik des Songs. KitschKrieg sind Kinder der Nacht. Sie kommen vom Dancefloor und haben DJ-Kultur studiert, bevor sie zu Deutschraps wichtigsten Erneuerern wurden. Ihre Einflüsse reichten immer schon weit über das Dancehall-HipHop-Kontinuum hinaus. Wenn sie also auf “Trettmann” Rave-Stabs, einen 2Step-Beat oder eben Trance-Harmonien in den Laptop laden, ist das nur konsequent. in diesen Momenten zeigt sich das wahrhaft Besondere der KK-Crew-Chemie. Da sind Vergangenheit und Zukunft. Da ist Trettmanns Liebe für genial-dilettantische Ghettomusick aus Montego Bay, Medellín oder Bow E3 und da ist KitschKriegs Vorstellung eines perfekten Popsongs. Das ist: das Impulsive, Intuitive. Und: das Geplante, Geschliffene. In den gut drei Jahren ihrer intensiven Zusammenarbeit haben KitschKrieg und Trettmann ihre Arbeitsweise optimiert. Trettmann schüttelt die Melos und Hooks aus dem Ärmel. Fiji Kris passt die 808. Fizzle macht das Lied tight. Und °awhodat° sorgt mit Visuals und Visionen dafür, dass aus all dem eine runde Sache wird, mit angemessenen Ecken und Kanten.

Es gibt diesen recht plötzlichen, natürlich beabsichtigten Bruch auf “Trettmann”, gleich zu beginn der Platte. Ein Uptempo-Beat kippt in ein Sample des Berliner Pianisten und Komponisten Nils Frahm. Auf diesem Sample basiert “Stolpersteine”, einer der größten Songs, die Trettmann je geschrieben hat, vielleicht sein größter überhaupt. Trettmann schildert darauf, mehr oder weniger ungefiltert, wie er morgens aus dem Club stolpert, die Hand noch im Rumglas, den Gedanken bei dem Mädchen auf der Tanzfläche. Sein Blick bleibt an den Stolpersteinen hängen, den eisernen Plaketten, die die grausamen Lebensgeschichten von Nazi-Opfern (hoffentlich) für immer in den Boden und das Bewusstsein dieses Landes brennen. Vor seinen Augen ziehen diese Geschichten auf und damit auch die Gewissheit, wie Geschichte gerade dabei ist, sich zu wiederholen. “Stolpersteine” ist politisch, weil es so persönlich ist. Es zoomt ganz nah rein und öffnet damit den Blick fürs große Ganze.